- Sturm und Drang: Literarische Revolution
- Sturm und Drang: Literarische RevolutionIn den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts blies eine Gruppe junger Literaten zum Aufbruch. Für gut zehn Jahre herrschte »literarische Revolution«. So nannte Goethe, der in Straßburg und Frankfurt den produktiven Mittelpunkt bildete, die neue Bewegung. Der Titel von Friedrich Maximilian Klingers Schauspiel, das ursprünglich »Wirrwarr« hieß, gab ihr den Namen: »Sturm und Drang«. Die Geburtsstunde des Sturm und Drang wird gern in den September 1770 verlegt, als der gärende Student Goethe in Straßburg dem großen Anreger, dem fünf Jahre älteren Herder, begegnete - »das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte«, so Goethes Bericht in »Dichtung und Wahrheit«. Prägnanter noch fassbar wird die Urszene des Aufbruchs im Frühsommer 1769, als Herder per Schiff Riga verließ. Er gefalle sich nicht, erklärt er in dem erst postum veröffentlichten Reisejournal, weder in seinem geistlichen Amt noch als Lehrer, Bürger oder Autor. Er sei »ein Tintenfass von gelehrter Schriftstellerei«, »ein Wörterbuch von Künsten und Wissenschaften«, »ein Repositorium voll Papiere und Bücher«, aber er lebe nicht. Nun wolle er, ein »Philosoph auf dem Schiffe«, von vorn beginnen, als »Philosoph der Natur«, wolle sich zum Schriftsteller der Menschheit bilden, für die »Aufweckung der Menschheit« wirken. In Goethes »Urfaust« wiederholt sich die Szene. Auch hier: die Unruhe im dumpfen und verstaubten Studierzimmer, die Klage über die nutzlosen Wissenschaften und das verlorene Leben, die Hinwendung zur Natur, diesmal freilich auf dem Weg über die Magie. Noch am Ende der Dekade stimmt Schillers Karl Moor in den »Räubern« das gleiche Lied an: »Mir ekelt vor diesem Tintengleksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von grossen Menschen.« »Pfui! Pfui über das schlappe Kastraten-Jahrhundert, zu nichts nüze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen. .. Da verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmakten Konvenzionen. ..«Bücher und Fakultäten, Schulwissen und Gelehrsamkeit stehen hier stellvertretend für den Preis der Zivilisation: Sie schnürt das Leben ab. Das gilt für die »fatalen bürgerlichen Verhältnisse« insgesamt, so Goethe im »Werther«, für die intellektuellen, sozialen und politischen Bedingungen gleichermaßen - den abgezirkelten französischen Geschmack, die Konventionen der ständisch regulierten Gesellschaft, die maschinenmäßige Konstruktion und Administration des aufgeklärt-absolutistischen Staatswesens. Auf der ganzen Linie lautete deshalb die Parole der Jungen, der Bürgersöhne: »sich durchstürmen, durchdrängen«. Aber wohin? Politische Programme durfte man kaum erwarten. Die Energien der neuen Jugendbewegung wurden zu Literatur. Sie sammelten sich in den Schlüsselwörtern Natur, Genie, Freiheit.Rousseau wurde unter diesen Umständen zum überragenden Gewährsmann. Seine Wirkung, im Einzelnen schwer greifbar, war allgegenwärtig. Mit seinen beiden Diskursen über die Wissenschaften und Künste und über den Ursprung der Ungleichheit hatte er das Unbehagen an der Kultur in die Welt der Aufklärung gebracht, einen »Ekelbegriff vom geselligen Leben« erregt (Goethe) und damit einen fundamentalen Perspektiven-, ja Mentalitätswandel eingeleitet. Nicht länger sollte das Heil aus Vervollkommnung und Fortschritt kommen, sondern aus der ursprünglichen Natur. Fast alle Stürmer und Dränger wurden zu Jüngern Rousseaus und seines »Naturevangeliums« (Goethe).Noch überboten aber wurde die Wirkung des Kulturkritikers von der des Genies schlechthin, von Shakespeare. An ihr entzündete sich der Aufbruch Goethes: »Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblick schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert. ..« Natur heißt auch in der Shakespeare-Rede von 1771 das Losungswort: »Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen.« Aber jetzt führte es zu einer Theologie des Genies: Shakespeare, aus dem »die Natur weissagt«, ist Schöpfer, der es mit Gottes Schöpferkraft aufnehmen kann. Herder, auch hier der Anreger, dringt in seiner Shakespeare-Rhapsodie immer wieder zu der Gleichung von Genie und göttlicher Schöpferkraft vor. »Dollmetscher der Natur« ist Shakespeare, »Vertrauter« der Gottheit«, der mit »Göttergriff« seine dramatische Welt erschafft, ein »dramatischer Gott«, der an den »Riesengott des Spinoza« erinnert, an das »Deus sive natura« (= Gott oder die Natur). »Hier ist kein Dichter! ist Schöpfer!« Die Lehre vom Genie hatte damit ihren Gipfel erreicht. Wie sie ins Selbstbewusstsein der Stürmer und Dränger einging, zeigt der ekstatische Ausbruch Johann Kaspar Lavaters: »Genieen - Lichter der Welt! Salz der Erde! Substantive in der Grammatik der Menschheit!. .. Menschengötter! Schöpfer! Zerstörer! Offenbarer der Geheimnisse Gottes und der Menschen!. .. Propheten! Priester! Könige der Welt!. .. die die Gottheit organisiert und gebildet hat - zu offenbaren durch sie sich selbst und ihre Schöpfungskraft und Weisheit und Huld. ..«Zum mythischen Heiligen des Sturm und Drang wurde folgerichtig Prometheus. Goethe stellte ihn neben Shakespeare: »Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe«. Der Topos vom Dichter als einem »Alter deus« (= zweiter Gott) war alt. Shaftesbury hatte ihm die besondere Note gegeben: Der Dichter sei »a second maker; a just Prometheus, under Jove«, »ein andrer Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter«. So kursierte unter den Genies das Wort vom »zweiten Prometheus«. Es knüpfte an den Menschenschöpfer Prometheus an, der die Menschen aus Ton schafft, ihnen seinen Geist einbläst, der Sonne den Funken entwendet: »Der lohe Lichtfunke Prometheus ist ausgebrannt«, weiß noch Schillers Karl Moor. Im Schöpfer Prometheus steckt aber auch der Aufrührer. Er explodiert förmlich in Goethes berühmter »Prometheus«-Ode. Sehr im Unterschied zu dem dramatischen »Prometheus«-Fragment gibt die Ode einer Rebellion freien Lauf, die an religionskritischer Brisanz ihresgleichen sucht und höchstes Aufsehen erregte. Denn dieser Prometheus macht Front gegen die Anbetung Gottes im Gewitter, wie sie die frommen Gewitterlieder der Kirche fordern und wie sie zuletzt noch Klopstock in der »Frühlingsfeier« aufgeklärt-gläubig vollzogen hat. Bestärkt wohl durch seinen modernen »Bruder« Benjamin Franklin, den Erfinder des Blitzableiters, protestiert Goethes Rebell bis zum Atheismus gegen den zornigen Gott der Orthodoxie und setzt sich als Schöpfer eines neuen Geschlechts an dessen Stelle.Der Shakespeare-Enthusiasmus und das Genie-Bewusstsein des Sturm und Drang fanden ihren künstlerischen Ausdruck am ehesten im Drama. Jakob Michael Reinhold Lenz, der in den »Anmerkungen übers Theater« schroff mit der aristotelischen (und lessingschen) Dramaturgie brach, bevorzugte dabei den Zugriff auf sozialkritische Gehalte, ebenso Heinrich Leopold Wagner, der wie Goethe (im »Faust«) das »Kindsmörderin«-Motiv einführte. Johann Anton Leisewitz und Klinger ließen den Subjektivismus der Leidenschaften in die Konstellation des Bruderzwistes eingehen. Der vielseitigste von allen aber war Goethe. Als Dramatiker suchte er nach heterodoxen, oppositionellen Genies in Geschichte und Mythos. Der faustrechtliche Selbsthelfer Götz von Berlichingen war der erste. Pläne zu einem »Sokrates«, einem »Caesar«, einem »Mahomet« kamen über Ansätze nicht hinaus. »Prometheus« und zunächst auch der »Faust« und der »Egmont« blieben Fragment. Noch einmal nahm dann der junge Schiller in den »Räubern« das Feuer des Sturm und Drang auf, grell, pathetisch, politisch aggressiv, alles überbietend, was vorher war.Prof. Dr. Hans-Jürgen SchingsGeschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740—1789, Beiträge von Sven Aage Jørgensen u. a. München 1990.Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Band 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution. 1789—1806. München 1983—89.
Universal-Lexikon. 2012.